Überbauen, anbauen, neu bauen
- Autor: Enrico Santifaller
- Fotos: Norbert Miguletz, Christl + Bruchhäuser, ADK Modulraum GmbH
Statt dem unübersichtlichen Konglomerat aus erdgeschossigen Bauten der Wingertschule in Dreieich-Offenthal einen weiteren hinzuzufügen, wollten die Architekten Christl + Bruchhäuser ein ebenso kompaktes wie funktionales Gefüge schaffen. Alt und Neu sollten erkennbar sein, was mit Hilfe von modularen Raumzellen gelang. Die Architekten überbauten den Bestand und konnten die Schule so zu einem Ganzen zusammenfassen, was darüber hinaus zeitgenössischen, pädagogischen Ansätzen entspricht.
Das zweigeschossige Gebäude, in dem 1969 die Wingertschule im Ortsteil Offenthal der etwa zwanzig Kilometer südlich von Frankfurt gelegenen Stadt Dreieich eröffnet wurde, ist ein sogenannter Schusterbau, benannt nach Franz Schuster. Er erfand das Prinzip der Erschließung, bei der jeweils zwei Klassen pro Etage durch ein dazwischenliegendes Treppenhaus flurlos erschlossen und von zwei Seiten belichtet werden. Schuster, einst Mitarbeiter von Ernst May, hatte dieses Prinzip erstmals 1928 im Frankfurter Stadtteil Niederursel realisiert, von wo aus es in den fünziger und sechziger Jahren als ein auf das Wesentliche reduzierter Bautyp seinen Siegeszug durch ganz Deutschland angetreten hatte. Doch die verschärften Brandschutzvorschriften offenbarten Anfang der 2000er Jahre ein großes Problem dieses Typs, das aus wirtschaftlichen Gründen oft zum Abbruch der Schusterbauten führte: Der nun geforderte zweite Fluchtweg ließ sich, wenn überhaupt, nur mit erheblichem Aufwand realisieren – viele Abrisse folgten.
Der Landkreis Offenbach ersparte der Wingertschule dieses Schicksal. Das Frankfurter Architekturbüro Christl + Bruchhäuser wurde beauftragt, entsprechende Pläne vorzulegen. Nun liegt die über die Jahre sukzessive um erdgeschossige Pavillons erweiterte Wingertschule beengt zwischen Stadthalle und Feuerwehrhaus. Eine weitere „Hütte“ wollten die Architekten nicht bauen, Abriss und Neubau waren ebenfalls keine Option – schließlich sollte der Schulbetrieb weiterlaufen. Vielmehr galt es, die eingeschossigen Bauten zu einem neuen Schul-Ganzen zusammenzufügen. Nicht nur die Abläufe wurden damit optimiert, sondern auch zusätzliche Raumbedürfnisse gestillt. Durch die Erweiterungen – eine zweigeschossige Pausenhalle als Zentrum, einen Hof und den neuen Haupteingang – hat der Schulkomplex auch an architektonischer Aussagekraft gegenüber der umgebenden Bebauung gewonnen.
„Mit Bestandsbauten und den neuen Raumzellen, für die wir uns aus statischen Gründen entschieden hatten, konnten wir etwas völlig Neues schaffen, bei dem auch das Alte seine Berechtigung behält und weiterhin erkennbar bleibt.“
Michael Christl, Christl + Bruchhäuser, Freie Architekten BDA, Frankfurt am Main
„Überbauen, anbauen, neu bauen“, erläutert Joachim Bruchhäuser, sei die bürointerne Lösung für den Entwurf gewesen: Die Pavillons wurden überbaut, an den Schusterbau Flure angebaut und Mensa, Küche und darüber liegende Klassenräume neu gebaut. Zunächst untersuchten die Architekten eine Holztafelbauweise, danach eine Holzrahmenbauweise, schließlich entschlossen sie sich, aus statischen Gründen, für eine Raumzellenbauweise aus Stahl: Vor allem die beiden Pavillons hatten nur sehr beschränkte Reserven für zusätzliche Auflasten; die zunächst angedachte Holzbaukonstruktion wäre zu schwergewesen. Außerdem war mit dieser Modulbauweise ein Vorfertigungsgrad von etwa sechzig Prozent möglich, so konnten die Architekten die Bauzeit deutlich verkürzen.
Für Christl + Bruchhäuser ergibt sich die Entscheidung, ob ein Gebäude in massiver Mauerwerks- oder in Modulbauweise ausgeführt werden soll, aus der Aufgabenstellung und den konkreten Verhältnissen vor Ort. Die Mauerwerksbauweise hat den wegen der Klimaveränderung immer wichtiger werdenden Vorteil der großen Speichermassen. Darüber hinaus kann man während des Bauens eventuelle Fehler korrigieren. Die Modulbauweise ist planungsintensiver, was die Architekten jedoch als Herausforderung begreifen.
33 Raumzellen in unterschiedlichen Dimensionen – die größten über 17 Meter lang und 19 Tonnen schwer – wurden pass- und maßgenau angefertigt. Sie wurden mit Tiefladern auf die Baustelle transportiert und mit einem Autokran auf die vorbereiteten Bestandsbauten gesetzt. Als Teil des Bauvorhabens war die Erweiterung mit den Modulen innerhalb von vier Monaten abgeschlossen. Die Gesamtbauzeit betrug 15 Monate. Positiv überrascht, sagt Joachim Bruchhäuser, habe ihn, dass sich der Hersteller ADK mit seinem System sehr individuell auf ganz spezifische Planungsbedürfnisse einstellen konnte. Die Stahlrahmenzellen bestanden aus einer Grundkonstruktion für den Boden, einer ebensolchen für die Decke, Trockenbauwänden und einer bereits integrierten Elektroinstallation. Holzfassade und Fenster wurden direkt vor Ort eingesetzt, ebenso wie die restlichen Installationen und der Innenausbau.
Die Raumzellenbauweise verhalf den Architekten, ihren Ansatz zu verwirklichen: Statt eines unübersichtlichen Konglomerats unterschiedlicher„Hütten“ sollte eine zeitgemäße Schule mit übersichtlichen Gebäudestrukturen und klarer Funktionszuweisung entstehen. Christl + Bruchhäuser interpretierten das Thema Schule im Sinne des aktuellen Paradigmenwechsels in der Pädagogik neu: helle, lichte Räume, gute Orientierung, offene Lernlandschaften – so, wie es heute von Lehrern und Eltern zu Recht gefordert wird. Das neue Gefüge lebt sozusagen baulich vor, was heute an pädagogischen Ansätzen in die Schule gebracht wird: Teamarbeit, offene, aktive Lernformen, individuelle Förderung und Inklusion. Das neue Gefüge ist kein Palast, doch es verhilft der Grundschule zu einem ansprechenden Äußeren.
Architekten
Christl + Bruchhäuser GmbH | Freie Architekten BDA,
Neue Kräme 26
60311 Frankfurt am Main
Projektinformationen
Modulzahl: 33, Bauzeit vor Ort: 4 Monate, Fläche: 1.535 m², Stockwerke: 2